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Formaldehyd - ein reizender Stoff


Zusammenfassung eines Vortrages anlässlich der SuissePro Fachtagung über gefährliche Stoffe am 26.09.2019 in Bern.

Thomas Eiche / Arbeitshygieniker SGAH

1 Zusammenfassung

Formaldehyd gehört zu den einfachsten organischen Verbindungen. Es tritt in vielen natürlichen Prozessen als chemisches Zwischenprodukt auf und ist so in Spuren fast überall dort anzutreffen wo es Leben gibt. So ist bekannt, dass im Körper eines Menschen täglich rund 50 g Formaldehyd selbst produziert und wieder verstoffwechselt werden. Nach GHS (internationales Regelwerk zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Chemikalien) ist Formaldehyd als krebserregend, Keimzellen-mutagen, akut giftig und allergieauslösend klassiert. Gleichzeitig besteht Einigkeit, und die Suva stellt dies in der MAK Wert Liste dar, dass bei Einhaltung des Grenzwertes die krebserzeugende, mutagene und allergieauslösende Wirkung nicht besteht. Damit kommen die technischen Anwendungen von Formaldehyd mit Recht weiter unter Druck, denn eine cmr (carcinogen, mutagen, reproduktionstoxisch) oder sensibilisierend Einstufung hat nach Chemikalienrecht Einschränkungen zur Folge. Der bisherige Erfolg ist, dass die Hautallergisierungsrate in der Bevölkerung schon deutlich zurückgegangen ist.

Die Konsequenz ist, dass die Einhaltung des Grenzwertes durch arbeitshygienische Messungen und von Arbeitshygienikern durchgeführte Arbeitsplatzanalysen überprüft werden muss.

2 HCHO provoziert Reaktionen

Kampagnen für E Zigaretten vergleichen die Formaldehydkonzentration im Dampf mit anderen HCHO Quellen um diese als vernachlässigbar darzustellen. Es stimmt aber trotz allem die Aussage des Kongs County of Public Health: «Looks like Tech, Works like Poison».

3 Biologie

Tatsächlich findet man Formaldehyd beinahe überall wo es Leben hat. Es wird in Körperzellen dauernd gebildet und verbraucht. So ist die tägliche Produktion und weitgehend wieder Vernichtung in den Zellen eines Menschen etwa 50 Gramm. Eine kleine Menge davon wird mit der Ausatemluft in einer Konzentration von etwa 5 nmol/l ausgeatmet. Bei einer Gruppe von z.B. 150 Personen sind das immerhin ca. 240 mg bzw. ein viertel Gramm an einem Arbeitstag. Wenn man es genau wissen möchte muss man eine Messung durchführen.

4 Chemie

Formaldehyd hat die chemische Formel HCHO und steht chemisch in einer Reihe mit

  • 4 C-H BindungenMethan CH4

  • 3 C-H BindungenMethanol CH3-OH

  • 2 C-H BindungenFormaldehyd CH2=O (bzw. HCHO)

  • 1 C-H BindungAmeisensäure HCOOH

  • 0 C-HKohlendioxid CO2

Gasförmig, wasserlöslich, instabil

  • Verbindet sich leicht mit anderen Molekülen

  • Wirkt vernetzend

5 Verwendung

  • Verwendung für Harze, Kleber

  • Formaldehyd wirkt biozid

  • Flächendesinfektion

  • Haltbarmachung biologischer Präparate (Pathologie)

  • Topfkonservierungsmittel (wenn auch wg. nicht «formaldehydfrei» nicht mehr üblich)

  • Reagens in ors

  • Verkaufsformen

  • Formalin: bis 37%ige wässrige Lösung

  • Enthält bis 10% giftiges Methanol als Stabilisator

  • Paraformaldehyd:

  • Welt-Jahresproduktion 21 Mio Tonnen (2006)

6 Studien

6.1 Medizinstudenten

  • Formaldehyd verdampft aus Formalin-behandelten Leichen in den Anatomie-Dissektionsräumen

  • Untersuchung mit ca. 500 Studierenden und Angestellten

  • Fragebogen und Blutuntersuchungen

  • Symptome waren unangenehmer Geruch (91,2%), Juckreiz in den Augen (81,3%) und übermäßiger Tränenfluss (76,1%)

  • Linderung mehrheitlich innerhalb einer Stunde (>80%)

  • Zwei Drittel berichteten über Hauterkrankungen wie Austrocknung (75%), Ekzeme (68,8%) und allergische Kontaktdermatitis (87,5%), Augenreizungen (68,8%), Reizungen der Atemwege (93,8%) und arbeitsbedingtes Asthma der Atemwege (53,3%)

  • Rote Blutkörperchen und -Plättchen waren bei Formalin-exponierten Mitarbeitern signifikant niedriger (4,08 ± 0,65 106/µl bzw. 237.375 ± 71745,73/µl) als bei den anderen Mitarbeitern.

  • Weisse Blutkörperchen waren teilweise höher aber auch tiefer als bei nicht exponierten Personen

  • Fazit: Die Studie zeigte die irritierende Wirkung von Formalin auf Medizinstudenten und chronische toxische Wirkungen auf Mitarbeiter.

6.2 Wirkung von HCHO auf Zellen

  • Formaldehyd kann lebende Organismen als exogene Substanz von aussen erreichen oder in den Zellen produziert werden.

  • Endogenes, körpereigenes HCHO bildet sich aus Hydroxymethylgruppen während enzymatischer Methylierungs- und Demethylierungsprozesse.

  • In-vitro-Untersuchungen an Tumorzellen und Endothelzellkulturen zeigten, dass HCHO in der Konzentration von

  • 10,0 mM den nekrotischen Zelltod verursachte

  • 1,0 mM Apoptose (und reduzierte mitotische Aktivität

  • 0,1 - 0,5 mM die Zellproliferation verstärkten und die apoptotische Aktivität

  • Die eigentliche genotoxische und krebserregende Wirkung von HCHO ist auf die Produktion von DNA-Protein-Vernetzungen zurückzuführen.

6.3 Wirkung auf die Haut

  • allergische Hauterkrankungen, oft als Ekzem an Händen und Armen

  • Sensibilisierungsraten Bevölkerung

  • Mitte 1990er noch bis 9%

  • Aktuell in Europa 0,5 – 2 %

7 Erste Schlussfolgerung

Auch sehr niedrige Konzentrationen an HCHO haben in den Zellen Wirkungen. Durch die hohe Reaktionsfähigkeit und Wasserlöslichkeit kann Formaldehyd kaum durch äussere Exposition über die Lunge, Haut und sogar Verschlucken in den Körper eindringen. Es wirkt vor allem lokal dort wo es auftrifft. Der Körper produziert und vernichtet im Vergleich zu dem was in den Körper gelangen kann ein Vielfaches an HCHO selbst.

Organismen müssen offensichtlich gute Mechanismen haben um die Wirkung des körpereigenen HCHO zu kontrollieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Enzym Alkoholdehydrogenase welches beim Alkoholabbau hilft und Formaldehyd zu Kohlendioxid oxidiert.

Durch die starke Reaktionsfähigkeit ist die Wirkung von äusserlichem Formaldehyd hauptsächlich lokal im Nasen- und Rachenbereich und auf der Haut. Eine offene Frage ist ob feine Aerosole wie sie beim „Dampfen“ auftreten nicht auch dazu führen, dass darin gelöstes Formaldehyd bis in die Lungenbläschen gelangen könnte und dadurch doch noch schädlich wirken kann.

8 Arbeitshygienekonzepte

Formaldehyd ist damit eine ziemlich «analoge» Thematik wie sie in der Arbeitshygiene häufig vorkommen. Einfache „digitale“ ja/nein bzw. gut/böse Antworten führen nicht weit.

Wo sind die Grenzen zwischen gut und böse oder um Paracelsus ungewöhnlich zu zitieren: “Der Gift verachtet, weiss um das nit, das im Gift ist”.

Um die Gefährlichkeit von Stoffen „digital“ zu beschreiben bestehen zwei systematische Ansätze:

  1. Gefahren Klassierung nach dem Globally Harmonised System (GHS)

  2. Grenzwerte wie z.B die Suva MAK Werte, DNELs oder BAG Richtwerte für die Allgemeinbevölkerung

8.1 Harmonisierte Einstufung Tab. 3.1

Die harmonisierte, d.h. EU weit geltende GHS Klassierung von Formaldehyd weist folgende der insgesamt 28 Gefahrenkategorien zu:

  • Akute Toxizität, Kategorie 3, Verschlucken; H301

  • Akute Toxizität, Kategorie 3, Einatmen; H331

  • Akute Toxizität, Kategorie 3, Hautkontakt; H311

  • Ätzwirkung auf die Haut, Kategorie 1B; H314

  • Sensibilisierung der Haut, Kategorie 1; H317

  • Keimzellmutagenität, Kategorie 2; H341

  • Karzinogenität, Kategorie 1B; H350

  • Spezifische Zielorgan-Toxizität (einmalige Exposition), Kategorie 1; H370 (Organe)

  • Spezifische Zielorgan-Toxizität (einmalige Exposition), Kategorie 3; H335 (Atemwege)

8.2 Grenzwerte

Grenzwerte und weitere Werte zum Vergleich

BAG 0.1 ppm bzw. 125 µg/m3

MAK 0.3 ppm bzw. 370 µg/m3

KZG 0.6 ppm bzw. 740 µg/m3

Zum Vergleich: Hintergrundkonzentration 0.05 ppm

Schwelle für Augen-/Nasen Irritationen 0,4 - 1 ppm

Symptomfreiheit bei Allergikern unterhalb 0,3 ppm

8.3 REACH und ChemRRV

REACH steht für Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals (Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien). Die ChemRRV (Chemikalien Risikoreduktionsverordnung) ist die analoge Umsetzung der Zulassung und Beschränkung von Chemikalien. Als Vorstufe zur definitiven Zuordnung besteht die SVHC Kandidatenliste für Zulassungspflicht oder Beschränkung (Substances of very high concern).

Beispiele für Stoffe mit Beschränkungen sind Chromate, Arsen-, Cadmiumverbindungen, Asbest, Methanol. Hier ist die Herstellung, Vermarktung, Verwendung in Produkten limitiert.

Die ChemRRV hat im Anhang das Kapitel 1.10 „Krebserzeugende, erbgutverändernde und fortpflanzungsgefährdende Stoffe“ mit dem folgenden Wortlaut:

1 Verbot

1 Krebserzeugende, erbgutverändernde und fortpflanzungsgefährdende Stoffe nach Anhang XVII Anlagen 1-6 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (EU-REACH-Verordnung)2 sowie Stoffe und Zubereitungen, die solche Stoffe enthalten, dürfen nicht an die breite Öffentlichkeit abgegeben werden, wenn ihr Massengehalt den massgebenden Grenzwert nach Anhang I Ziffer 1.1.2.2 der Verordnung (EG) Nr. 1272/20083 übersteigt.

8.4 Übersicht über Studien zur Exposition am Arbeitsplatz

Untersuchungen zeigen, dass der MAK Wert von 0.3 ppm in einzelnen Branchen durchaus erreicht oder überschritten wird. Siehe Exposure to Formaldehyde and Its Potential Human Health Hazards; Ki-Hyun Kim , Shamin Ara Jahan & Jong-Tae Lee; Journal of Environmental Science and Health, Part C, 29:4, 277-299

9 Schlussfolgerung

Arbeitshygiene ist eine «analoge» Angelegenheit, ein Digitales «Ja/Nein» kommt an Grenzen. Nach REACH und ChemRRV Logik müsste die mutagen/carcinogen Einstufung von Formaldehyd Folgen für die Verwendung von Formaldehyd haben.

Wenn es einen sicheren Konzentrationbereich, nämlich Einhaltung des MAK Wertes gibt muss man beweisen, dass man darin liegt: Daraus ersschliesst sich zwingend eine Analyse- und Messpflicht, durchgeführt von Arbeitshygienikern für Arbeitsumgebungen in denen Formaldehyd auftreten kann oder verwendet wird.

Quellen

Römp Chemielexikon

Noha Selim Mohamed Elshaer, Madiha Awad Elsayed Mahmoud; Toxic effects of formalin-treated cadaver on medical students, staff members, and workers in the Alexandria Faculty of Medicine; Alexandria Journal of Medicine 53 (2017) 337–343

Bela Szende, Erno Tyihak; Effect of formaldehyde on cell proliferation and death; Cell Biol. Int. (2010) 34, 1273–1282

Gestis

Grenzwerte am Arbeitsplatz der Suva unter: www.suva.ch

BAG Richtwert bewohnte Wohn- und Aufenthaltsräume

Exposure to Formaldehyde and Its Potential Human Health Hazards; Ki-Hyun Kim , Shamin Ara Jahan & Jong-Tae Lee; Journal of Environmental Science and Health, Part C, 29:4, 277-299


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